Nick Cave ist überall

05.11.2016 - 09:05 UhrVor 7 Jahren aktualisiert
Nick Cave
Rapid Eye Movies/moviepilot
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Ihr kennt Nick Cave nur, weil er einmal in einem schaurig schönen Musikvideo Kylie Minogue umbrachte? Dann habt ihr so unendlich viel mehr als nur wundervolle Musik verpasst ...

Mitunter feiern wir am Samstag eine großartige Person, die uns auf der Leinwand oder davor mehr als nur beeindruckt hat. Mitunter schwärmen wir hier von einer Serie, die es sich einmal bei uns gemütlich gemacht hat und einfach nicht mehr ausziehen will. Mitunter ziehen wir auch dem ein oder anderen schrecklichen Film die Hosen runter und hoffen, dass er sich ordentlich schämt. Aber jeden einzelnen dieser Samstage präsentieren wir euch einen Kommentar aus der Community, der es verdient hat, hier zu stehen. Ihr habt neulich erst so einen gesehen? Dann schlagt ihn uns vor!

Der Kommentar der Woche
Diese Woche tauchen wir in das tiefrote Meer aus Samt, das Nick Cave uns mit seiner Musik, seinen Filmen, seinen Worten, seinem gesamten Schaffen bereitet hat. So ein großartiger Künstler kann nur durch einen großartigen und persönlichen Kommentar gewürdigt werden - und genau den hat FrancisYorkMorgan verfasst:

- - - Vorsicht Stufe - - -

Wer über Nick Cave als Künstler und Mensch sprechen will, der darf eigentlich gar nicht anfangen mit: "Er wurde da und dann geboren, ging hier und dort seinen geradlinigen Weg, Kinder, Frauen" und so weiter. Manche Momente vergisst man nicht und falls ich ihn jemals treffe, dann...

***

Springt Jahre zurück, als ich in einem Nachbardorf vor einem Bücherregal stand. Dieses gehörte dem Hippiedad einer Ex-Freundin. Ein verrückter Vogel, der seinen Kindern mit 8 und 10 den Film Braindead zeigte, was diese auf ewig verstörte. Einer, der dachte, dass die Heavy Metal-Kapelle "Iced Earth" wunderbar zu einer kleinen wie flirrenden Hochzeit passt, einer der dachte, er würde ewig 20 bleiben. Ich stand davor und zog ein bläuliches Buch mit dem Titel "Und die Eselin sah den Engel" aus dem Regal. Was für ein großartiges Buch. Der dunkle, kalte Wein meiner literarischen Sammlung. Ich gab es nie zurück. Springt dorthin, wo ich merkte, dass ich es noch hatte, dieses Buch. Springt wieder zurück, als besagte Ex keifend mit mir Schluss machte, und das Buch, den Film "Matrix Revolutions" und eine Packung Menthol Zigaretten bei mir vergaß. Die Packung und die DVD flogen irgendwann sausend in den Müll. Springt an jenen Abend, als ich das erste mal dieses Buch las. Ein sehr schwieriges, völlig vereinnahmendes Werk. Bedrückend, unvergesslich und der erste Kontakt mit Nick Cave. Eingebrannt in die Gefühle und Windungen meiner Erinnerungen.

Tänzelt weiter zum Film The Proposition, springt vor zur Spin-Off Band "Grinderman", zu den "Bad Seeds" und wieder zurück. "The Proposition". Was für ein schwer unterschätzter Film. Beim ersten Mal mochte ich ihn nicht, beim zweiten Mal hasste ich diesen Film, und nun, nach zig Versuchen in der australischen Steppe, liebe ich ihn. Nick Cave steuerte hier ein ganz und gar sperriges und "zwischen den Zeilen"-Drehbuch bei. Noch heute kann ich die Augen schließen, wenn ich den vorgetragenen, dreckigen und tief philosophischen Zeilen des Filmes lausche. Springt ins Tonstudio zu Warren Ellis. Er und Nick Cave haben einige Soundtracks zusammen gemacht, und fast alle stehen sie hier in meinem Regal. Gleitet zurück an einen Abend, wo ich ein `kleines´ Bier zu viel trank und durch einen schlimmen Kater wandelte. Schuld war die Die Ermordung des Jesse James durch den Feigling Robert Ford - und ein wenig Selbstüberschätzung, wie fehlende Trinkfestigkeit. Ich spulte und spulte wieder zurück. Dieses Finale, diese Kollagen, wundersame Fragmente und der Meister im musikalischen Hintergrund. Ein unheimlich großer Film über Freundschaft, Familie und Vertrauen. Die letzten Minuten, dieser magische Off-Comment und die sphärische Musik von Ellis und Cave.

Cave und Ellis. Stolpert dorthin, wo ich zufällig stolperte. Das Bücherregal mit dem ulkigen Titel, der Esel, die Filme, die Literatur. Bis 2010 hörte ich keine einzige "Bad Seeds"-Platte. Aber dann! Hüpft vor und zurück. "Push the Sky Away" ist mein Liebling, "Skeleton Tree" aus dem Stand gleich dahinter. Der gute Wein. Halbtrocken. Er atmet im Dunkel der Abende. Als ich mich die letzten Jahre vorsichtig durch seine Vita hörte, seine bedächtigen Worte in meine Seele aufsog und in der, mal sanften, mal schwirrend ruckartigen Musik verschwand, glitt ich weiter und weiter, unter dem Leben durch, und bis nach oben in die Wolken. Die Sonne scheint, doch sie steht tief. Wundervolle Musik. Nicht beiläufig. Für Nick Cave muss man sich Zeit nehmen bis zu dem einen Punkt, wo man sich die Zeit nehmen will. Unvergesslich einer dieser morgendlichen Spaziergänge zur Arbeit. Minus 12 Grad Celsius, die Äste, Rinde, Bürgersteige, Geländer und kleinen Pflanzenreste, die der Herbst übrig ließ. Alles gefroren. Über dem Boden eine Schicht dünnes Eis, glänzend im Licht der tiefstehenden und gerade aufgehenden Sonne. Springt zurück, als ich den Song "We No Who U R" anspielte, tief einatmete und vor klirrender Kälte hustete, mich verschluckte und mit roten Augen durch die eiskalte Luft lief. "Push the Sky Away" - ein Potpourri elegischer und tief unter die Haut gehender Musik. Springt weiter zu seinen Worten, geschrieben und gesungen, gesprochen und unausgesprochen. Ein Blick, ein Wink und die Stille selbst.

Seine bedachten Fäden hinter den Filmen. Lawless und The Road. Ellis und Cave. Springt zu den Scores, zu den Zeilen, zu Nick Caves Gesicht und weiter zu euren Gesichtern. Fallt nach unten zu den Momenten einer schlimmen Grippe, Fieber und Schweiß. Nach Tagen der Übelkeit, der Langeweile und der Monotonie gab es nicht besseres, als eine Platte der "Bad Seeds", die Zeilen einer seiner Bücher oder die bewegten Bilder, die er mit seiner Musik unterlegte. Fallt zu diesen Momenten, harrt aus, wartet und steht wieder auf, gleitet weiter und bleibt auf der Hut. Nick Cave ist überall, auch wenn ihr es vielleicht nicht gleich merkt.

* ring, ring, ring *

Springt zu mir, als ein scheinbarer Idiot an meiner Lagertür 5x lange klingelt um mich zu ärgern. Ich riss die Tür auf und da stand er, mein Vater. Lauft einen Moment weiter, schließt die Tür des Autos und lauscht. Er bat mich mit in sein Auto und zeigte mir die vielen "Vol.1 bis 7"-Mix CD's, die ich meiner verstorbenen Mom über die Jahre machte. Wir setzten uns in die Sitze und er spielte durch einige dieser niedlich beschrifteten Rohlinge. `Up´ and `Down´. Er spulte vor und zurück, schnell und schneller, dann wieder langsamer, meckerte an den vielen Songs. Kitschiger Murks, zu viel Dream Pop, zu viel Gesang, zu viel Gitarre, zu wenig Gesang, zu wenig Gitarre und zu viele alte, gute und wehmütige Erinnerungen an seine Frau. Furz und Teufel noch eins! Eltern und Kinder und deren Kinder wie deren Urgroßeltern. Musik ist eine Frage der Generation! Oder Nicht? Gleitet zu den wenigen Halmen, die man miteinander hat, die wenigen Lieder, auf die sich fast alle einigen können und haltet inne, winkt ab oder hüpft in die Luft, lasst euch von einem Piano tragen und aus dem Fenster in den sonoren Regen dieser Tage starren. Der Regen dieser Tage fällt und fällt. In ein und der selben Tonart. Kein `Up´, kein `Down´.

Bei einem Song nahm er die Finger von `Up´ und auch von `Down´, schaute mich an und fragte; "...wer ist das, mein Sohn?" Ohne Ironie, ohne Feixen, Generationsübergreifend und ohne Witz. "Nick Cave ist das.", sagte ich ihm. Der Übersong "Jubilee Street" spielt und spielt. Das schichtende Crescendo, die alte Liebe, die glimmende Hoffnung. "Push the Sky away". Er fragte mich, ob ich ein ganzes Album von Nick Cave habe. Da schmunzelte ich in die digitalen Armaturen seines Autos, sah den aufgeklebten Wunderbaum, den giftgrünen `Bird of Prey´ aus Star Trek, das durch den Sommer verblichene Foto meiner Mom und das lebende Gesicht meines Vaters. Bücher, Filme, Musik, "Der Tod des Bunny Monroe", der Tod einer lieben Frau, der Tod eines Sohnes. Springt zu den hitzigen Diskussionen mit euren Eltern, wie `scheiße´ die jeweils geliebte Musik wohl IST, gleitet dort hin, wo sie ständig in eure Zimmer maulten, dass ihr mal leiser machen sollt. Furz und Teufel noch eins! Landet dort, wo ihr die schiefen `Gesänge´ eurer Eltern mit wirren und rollenden Augen `kommentiert´, nicht aus dem fahrenden Auto flüchten könnt und euch die Ohren zuhaltet. Weiter, weiter und im Bogen wieder zurück, zwischen hinein und hoch auf.

Ein paar Tage weiter vor. Die rot gepflasterte Terrasse, nur ich und er, er und ich, ein gut bestückter Grill, Kartoffeln und Steaks, ein Abend im Sommer 2015 und die wohlige Wärme der anklingenden Dämmerung. Nick Cave und seine "Bad Seeds" spielen durch den Abend, die Biere zischen und die Stille griff um.

Schaut auf die letzten Tage. One More Time with Feeling wird gefeiert, hier auf MP besprochen und von mir erwartet. Seine neue Scheibe erschien und ich bekam die Kinnlade nicht sofort wieder hoch, als ich erfuhr, dass sein Sohn letztes Jahr starb. Tänzelt zu Momenten, zu Phasen und Tagen, wo ihr online wart. Dennoch verpasst. Springt zu meinem Vater, als der die neue Scheibe kauft, springt zu mir, wie ich sie mir kaufe. Die "Push the Sky Away" gleich mit hinter her, bis heute habe ich sie nicht von meinem Vater wieder bekommen. Der alte Dieb. Schaut auf den Abend, als das brüchige, grollende und leise Album auf meinen geeichten Ohrschalen lief. Ruhig, stechend und ein warmer Schrei ohne Ausbruch - großartig.

***

Manchmal stolpert man durchs Leben und trifft die Kunst selbst. Ohne es zu wollen, ohne es zu erzwingen und ohne Sensation. Der leise Ton. Bei Nick Cave denken immer alle an Musik mit den "Bad Seeds", an Musik mit "Grinderman" und an Musik zu Filmen. Der Autor, der Schauspieler und die Bühne. Seine Zeilen, sein Wirken. Nick Cave zeigte mir vor wenigen Tagen, dass es gut ist, Trauer aufzuarbeiten. In dem man singt, vor und zurück springt, liebt, weint, sphärischer Musik erliegt, schreibt und weiter lebt. Man mag davon halten, was man will, aber sollte ich ihn je treffen, dann würde ich ihm danken. Nicht nur dafür...

Den Originalkommentar findet ihr hier.

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